"Gesundheitskultur
als Leitbegriff einer bewegungskulturellen Gesundheitserziehung"
Stefan
Grössing (Professor für Sportpädagogik und -didaktik in
Salzburg) entwickelt den Begriff der "Gesundheitskultur" als Leitbegriff
einer "bewegungskulturellen Gesundheitserziehung". Er setzt sich damit
bewusst von gebräuchlichen Konzepten in der Sportpädagogik, aber
auch von ihm als einseitig empfundenen salutogenetischen Konzepten wie
sie in der Sportpädagogik von Brodtmann vertreten werden.
"...
Das Konzept hat wenig im
Sinn mit Training und Ausdauer, mit therapeutischer Rückenschule und
maschineller Muskelkräftigung, mit Volksläufen und Fitnesstudios.
Ich behaupte nicht, dass es damit gar nichts zu tun hätte und die
Risikofaktoren und der Bewegungsmangel darin nichts zu gelten hätten,
ebensowenig schlage ich mich auf die modisch andere Seite der Antonovsky-Jünger
und finde in meinen gesundheitspädagogischen Überlegungen das
Auslangen mit den Schutzfaktoren, der sozialen Kompetenz und dem positiven
Selbstkonzept. Ich halte beides für wichtig im Bereich des menschlichen
Gesundseins und schliesse das sportliche Training und die Dehnungsübungen
ebenso darin ein wie die Stärkung des Selbstwertempfindens, die Schaffung
sozialer Geborgenheit und geborgener Geselligkeit, die Leistungsfähigkeit
und die Könnensüberzeugung. Und ich binde alle diese Gesundheitsfaktoren
an das vielfältigste Bewegungshandeln, das im Rahmen der Schule, der
Vereine, der Familie nur möglich ist, an das zielgeleitete und methodisch
durchdachte Bewegungslernen, an Fremd- und Selbstbildungsprozesse innerhalb
motorisch-körperlicher Tätigkeiten, an die Vorbildhaftigkeit
elterlicher und beruflicher Bewegungserzieherinnen und -erzieher.
Dies alles geschieht in
der Überzeugung, dass eine bewegungskulturelle Gesundheitsförderung
und Gesundheitserziehung ein sehr individuelles, komplexes und variables
Phänomen darstellt und die personale Verfassung der Gesundheitskultur
in ihrer tausendfältigen Ausformung keinen dieser gesundheitsbestimmenden
Faktoren grundsätzlich ausschliesst und keinem die alleinige Wirksamkeit
zubilligt. Gesundsein hat sehr viel mit Gleichgewicht und Ausgewogenheit
zu tun, Gesundheitserziehung im allgemeinen und im Rahmen einer Bewegungserziehung
im besonderen ebenfalls.
GESUNDHEIT IM WANDEL DER
ZEIT
Dass Gesundheit kein biologisches
sondern ein kulturelles Thema bildet, ist dann einzusehen, wenn man den
Wandel des Gesundheitsbegriffes in den Epochen der abendländischen
Geistesgeschichte erkennt und als gesellschaftlich geformt anerkennt. Der
Begriff Gesundheitskultur der in dieser Erörterung als Zieldimension
einer bewegungskulturellen Erziehung herausgestellt wird, drückt diese
kulturelle Verfassung der menschlichen Gesundheit deutlich aus. Er ist
Spiegelbild gesellschaftlicher und kultureller Wirklichkeit, Ausdruck des
Ganzheitsdenkens und Widerschein eines grundlegenden Paradigmawechsels
europäischer Geistigkeit (vgl. Capra 1987). Dem gegenüber ist
das Trainingskonzept der Gesundheitserziehung ein Ausdruck naturwissenschaftlich-zergliedernder
Denktradition im Sinne des cartesianischen Weltbildes. Beide Denkweisen
entwickefn unterschiedliche Körper- und Bewegungsbilder und beide
Denkweisen ziehen deshalb auch verschiedenartige Konzeptionen einer körperlich-motorischen
Erziehung nach sich. Das hier zu erörternde bewegungspädagogische
Konzept ist als Ganzes und in seiner gesundheitskulturellen Teilsicht dem
holistischen Weltbild (vgl. Capra 1987) der nachcartesianischen Ära
verpflichtet.
Aus diesem Grunde habe ich
auch den gebräuchlichen Risikofaktoren und Krankheitsursachen der
sportmedizinischen Betrachtung des Phänomens der menschlichen Gesundheit
einige Aspekte hinzuzufügen, weil die beiden zentralen Begriffe Sport
und Gesundheit nicht mehr als ausreichend empfunden werden, der kompiexen
Beziehung zwischen Bewegung und Gesundsein den adäquaten Ausdruck
zu geben. Das Trainingskonzept der Gesundheitsförderung konnte im
Kampf gegen die Zivilisationskrankheiten mit sportlichen Aktivitäten
das Auslangen finden: der weitverbreitete Bewegungsmangel erfordert eben
den Ausgleich des sportlichen Trainings zur Reduzierung der Risikofaktoren.
WAS IST GESUNDHEITSKULTUR?
Wenn aber der medizinisch
verengte Gesundheitsbegriff zum anthropologischen Aspekt der Gesundheitskultur
erweitert wird, reicht die Anleitung und Aufforderung zum Sporttreiben
nicht mehr aus, den pädagogischen Weg zum Ziel zu bahnen und zu beschreiten.
Was ist also Gesundheitskultur und welchen Beitrag leistet eine Bewegungserziehung
zur Erreichung dieses individuell und gesellschaftlich wünschenswerten
Zustandes? Der Begriff Gesundheitskultur fasst ein Ensemble personaler
Fähigkeiten und institutionell-gesellschaftlicher Zustände in
die Einheit eines gesundheitsbedachten Lebensstiles innerhalb gesundheitsbetonter
Lebensumstände zusammen. Zu den personalen Fähigkeiten einer
gesunden Lebensführung zählen motorische Gewohnheiten erholsamer,
ausgleichender, ausdauernder, erlebnishafter und erfahrungsreicher Art,
ein bewusstes aber nicht einseitiges Ernährungsverhalten, hygienische
Gesundheitspraktiken, Schmerztoleranz, soziale Kompetenzen vielfältigster
Art, Selbstvertrauen, Selbstwertempfinden, Leistungsfreude und Könnensoptimismus.
Die Gesundheitskultur als individuelle Verfasstheit ist ein gesamterzieherisches
Anliegen, das auf den Wegen der Information, Aufklärung, Erfahrung,
des Erlebens, Erkennens, Wahrnehmens, der Entwicklung von Handlungsbereitschaft
und der Bewusstseinsbildung schliesslich zum Ziel einer gesundheitskulturellen
Handlungsfähigkeit hinführt. Auf all diesen pädagogischen
Wegen kann die Bewegungserziehung Weggefährte und Wegweiser des heranwachsenden
Menschen sein. Das Erlernen und Ausführen der Bewegungshandlungen
lässt sich mit gesundheitsfördernden Einsichten, Erfahrungen
und Erlebnissen verknüpfen und bringt gesundheitsbewusste Handlungsfähigkeiten
hervor, und dies in allen vorhin angesprochenen personellen Ebenen.
EIN BEITRAG ZUM SELBSTKONZEPT
Wenn das positive Selbstkonzept
ein zentraler Faktor menschlicher Gesundheit ist - und daran zweifle ich
nicht -, wäre zu fragen, was denn das Bewegungshandeln zum Aufbau
und Ausbau des Selbstwertempfindens beizutragen vermag? Im Kindes- und
Jugendalter läuft viel über den Körper, sein Aussehen, seine
Kraft und Geschicklichkeit, seine Leistungsfähigkeit und seine motorische
Repräsentanz. Indem wir über den Bewegungsunterricht, über
familiäre Bewegungserziehung und Vereinsangebote, den Heranwachsenden
den eigenen Körper als kräftig, geschickt, von anderen bewundert,
aber auch grenzenhaft, zeitweilig versagend, beschränkt erleben und
erfahren lassen, tragen wir als Bewegungserzieher viel zum Selbstkonzept
und damit zur Entfaltung des gesundheitskulturellen Lebensstils bei. Bewegungshandeln
ist ein gruppenhaft-geselliges Tun, schafft dauerhafte soziale Bindungen,
erfordert Kontaktbereitschaft und -fähigkeit und gewährt gruppenbezogene
oder partnerschaftliche Geborgenheit.
Die Einseitigkeit des gesundheitspädagogischen
Ansatzes wie ihn Brodtmann (1996) vertritt, kann an einem Beispiel gezeigt
werden. Er bezeichnet das positive Selbstkonzept, d.h. die Einsicht in
die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens und Handelns als wesentlichen Faktor
des Gesundseins und meint dann, dass dieser Faktor durch Jogging, Rückenschule,
Yoga, Reformkost nicht zu ersetzen sei. Das ist kurzschlüssig gedacht:
Laufen, Gesundheitsgymnastik, bewusste Ernährung können zwar
unvernünftig, einseitig, ungesund betrieben werden, aber auch Ausdruck
des individuellen Lebenssinnes und der gesundheitskulturellen Lebensführung
sein. Und warum sollte es ausgeschlossen sein, durch Yoga auch Lebenssinn
zu erfahren?
Bewegungskulturelle Erziehung
zur Anbahnung einer individuellen Gesundheitskultur ist sicherlich ein
anderes pädagogisches Konzept als die sportbezogene Gesundheitsförderung
durch Training, fällt aber nicht in den Fehler des extremen Pendelausschlages
in die andere Richtung. Sportliche Aktivitäten gegen die Risikofaktoren
des Bewegungsmangels, ausgleichende Übungen gegen einseitige körperliche
Belastung und Haltungsdeformitäten, kräftigende und dehnende
Übungen gegen Muskeldysbalancen, Ausdauersport für die Stärkung
des Herzkreislaufsystems sind nicht deshalb ausser Dienst gestellt, weil
sie ehemals zu hoch eingestuft und ins Zentrum des Gesundheitsversprechens
gerückt waren. Sie bilden weiterhin einen Teil des Ensembles bewegungskultureller
Massnahmen zur Hinführung auf die individuelle Gesundheitskultur,
teilen sich ihre Einsatzberechtigung aber mit anderen motorischen und nichtmotorischen
Handlungen, Erfahrungen, Erkenntnissen und Wissensbeständen.
EINE INDIVIDUELLE UND
ZUGLEICH GESELLSCHAFTLICHE ANGELEGENHEIT
Die Beschreibung der Gesundheitskultur
als Lebensstil hat die Breite und Vielfalt der bewegungskulturellen Aktivitäten
als Mittel der Zielerreichung deutlich gemacht.
Die gesundheitskulturelle
Lebensführung ist ohne Zweifel eine personelle und eine gesellschaftliche
Angelegenheit, die Bewegungserziehung hat es aber vorrangig mit der personalen
Seite zu tun, weil sie den Menschen befähigt, gesundheitsorientierte
Praktiken, Gewohnheiten und Einstellungen kennenzulernen und auszuüben.
Der Pädagoge richtet sein Denken und Handeln auf das Individuum. Den
Kern dieser bewegungspädagogischen Überlegungen zum Thema Gesundheitskultur
bilden deshalb auch die personalen Fähigkeiten des Menschen, die zu
entwickeln und zu stärken der erzieherische Beitrag zur gesundheitskulturellen
Lebensführung des einzelnen wäre. Wir erfahren es aber gegenwärtig
zu häufig und zu eindrücklich, dass die personale Gesundheitskultur
durch negative, umweltliche und gesellschaftliche Faktoren verfehlt oder
zumindest beeinträchtigt wird. Wenn sich pädagogisches Bemühen
ausschliesslich auf das Denken und Handeln des Individuums und nicht beständig
und zugleich auch auf die Verhältnisse und Zustände konzentriert,
unter denen das alltägliche Leben stattfindet, bleibt es unvollständig
und darin wirkungsarm. Schulische Bewegungserziehung unter gesundheitskultureller
Absicht hat deshalb Kinder und Jugendliche zu befähigen, gesund zu
leben und zugleich dafür zu sorgen, dass die schulische Lebenswelt
gesund gestaltet ist.
ZWEIFACHE SINNORIENTIERUNG
Ich bezeichne mein bewegungspädagogisches
Konzept als ein sinnorientiertes. Die Sinnorientierung ist eine zweifache:
Bewegungserziehung fragt nach der Sinnhaftigkeit des Bewegens, der Körperpflege,
des Wettkämpfens usw. und errichtet auf diesem Sinnfundament das Konstrukt
des didaktischen Entscheidens und Handelns, und sie führt den heranwachsenden
Menschen über sinnhafte Erfahrungen zur sinngeleiteten Lebenshaltung
und Lebensführung. Diese Einsicht lässt sich am Beispiel der
Gesundheitskultur veranschaulichen: die bewegungserzieherischen Bemühungen
zur Entwicklung und Festigung eines gesundheitskulturellen Lebensstils
sind nur dann von Erfolg gekrönt, wenn dem heranwachsenden Menschen
die Sinngehalte der ausgleichenden, kräftigenden, dehnenden Übungen,
der Ernährungsregeln, Schlafgewohnheiten usw. aufgezeigt werden und
diese Teilsinne des Lebens in den Gesamtzusammenhang des Lebenssinnes integriert
werden.
Literaturverzeichnis
Capra, F.: Wendezeit. Bern
1987.
Grössing, S.: Bewegungskultur
und Bewegungserziehung. Schorndorf 1993.
Brodtmann, D.: Kinder-Bewegung-Gesundheit.
Was sind die wirklichen Risikofaktoren? Eine pädagogische Widerrede.
In: Sportpädagogik 5 (1996), 6-11. |